„Es gibt kein Leben auf der Straße, es gibt nur ein langsames Sterben auf der Straße“, machte Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo, beim Berliner Pub Talk zu Obdachlosigkeit deutlich. Er diskutierte mit Elke Breitenbach, Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales und Robert Ide, Ressortleiter Berlin/Brandenburg beim Tagesspiegel. Moderiert hat Alexander Schröder.

Von links: Elke Breitenbach, Alexander Schröder, Dieter Puhl und Robert Ide

Warum werden Menschen obdachlos?

In Berlin steigen die Mieten kräftig an. Das sei ein Grund für die wachsende Obdachlosigkeit. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung es Vermietern erleichtert hat, Mieterverträge zu kündigen, kritisierte Breitenbach. Selbst wer seine Miete nicht vollständig zahlt, weil er ein Schreiben mit einer Mieterhöhung übersehen hat, verliert innerhalb kürzester Zeit seine Wohnung. Da Vermieter mit Neuvermietungen höhere Erträge erzielen können, sei es ökonomisch attraktiv, Bestandsmietern zu kündigen. Ide wies auf ein Portrait einer jungen alleinerziehenden Mutter im Tagesspiegel hin. Diese hätte sehr schnell ihre Wohnung verloren, weil sie neben der Betreuung ihrer Kinder mit Bürokratie und dem „Papierkram“ überfordert gewesen sei. Das ist nicht ungewöhnlich. Menschen, die persönlichen Krisen und Problemen ausgesetzt sind, öffnen auch häufig ihre Post nicht mehr.

Puhl wies darauf hin, dass kaum ein Mensch von schweren Lebenskrisen verschont bleibt. Den meisten Menschen gelingt es, sich aus diesen Krisen raus zu kämpfen, aber eben nicht allen. Ein gravierendes Problem sei Alkohol. Alkoholabhängigkeit ziehe oft den Verlust des Arbeitsplatzes und der Lebenspartnerschaft mit sich. Dann ist es zum Verlust der Wohnung nicht mehr weit. Viele Menschen, die irgendwann obdachlos werden, legen bereits zuvor ein auffälliges Sozialverhalten an den Tag.

Wie kann ich helfen?

Daraus ergibt sich, wie am besten gegen Obdachlosigkeit geholfen werden kann. Puhl appellierte, sich um die „irren Nachbarn“ zu kümmern. Wenn es aus einer Wohnung müffelt oder die Scheiben mit Zeitungspapier abgeklebt sind, sei das ein deutlicher Hinweis darauf, dass mit dem Nachbarn etwas nicht in Ordnung ist. Auch wenn es nicht einfach ist, sei es gut, diese Menschen einfach einmal anzusprechen. Das gelte auch für die Obdachlosen. Ein freundlicher Gruß, ein Gespräch oder eine Wärmflasche sind oft wichtiger als kleine Geldspenden. Wer kleine Summen spenden möchte, sollte damit besser die Obdachlosen direkt unterstützen. Obdachlose die einen besonders schlechten Eindruck hinterlassen, erhalten viel weniger Spenden. Darum ist es sinnvoll, diese Menschen zuerst zu unterstützen. Wer sich engagieren und direkt helfen möchte, ist bei der Bahnhofsmission herzlich willkommen. Hier gebe es für jeden passende Aufgaben, um sich einzubringen. Eine Teilnehmerin wies auf die Obdachlosenzeitungen – wie zum Beispiel den Straßenfeger – hin. Wer eine diese Zeitungen kauft, unterstützt den Obdachlosen und gleichzeitig soziale Projekte. Ide erläuterte die Leserspendenaktion des Tagesspiegels. Damit ist unter anderem der erste Kältebus in Berlin finanziert worden.

Krankheit und Tod

Selbst bei Minustemperaturen schlafen viele Obdachlose draußen. Breitenbach erklärte, dass sie jeden Morgen froh sei, wenn es keine Nachrichten über gestorbene Obdachlose gibt. Puhl wies darauf hin, dass viele Obdachlose an mehreren akuten Erkrankungen leiden würden. Die medizinische Versorge sei nicht ausreichend. Auch wenn jemand an Krebs erkrankt sei, werde er aus dem Krankenhaus auf die Straße entlassen.

Statistik und Zahlen

Niemand könne seriös sagen, wie viele Menschen in Berlin obdachlos sind, machte Breitenbach deutlich. Es gebe Zahlen für die durchgeführten Beratungen. Hier werde aber auch jede einzelne Beratung gezählt. Darum sei es wahrscheinlich, dass Obdachlose mehrfach erfasst werden. Der Berliner Senat plane jedoch eine zuverlässige Statistik. Klar sei aber, dass bereits heute 50.000 Menschen in Berlin kommunal untergebracht werden. Hinzu kämen Menschen – insbesondere Frauen – die mit Sofahopping Obdachlosigkeit vermeiden. Dabei sei sexuelle Gewalt ein Problem.

Öffentliche Budgets

Der rotrotgrüne Berliner Senat hat das Budget zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit deutlich von  vier Millionen Euro im Jahr auf acht Millionen im Jahr erhöht, also verdoppelt. Man müsse diese Zahl aber auch an den Steuermehreinnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro messen, machte Puhl deutlich. Breitenbach wies darauf hin, dass es nicht sinnvoll sei, nur das Budget ihres Hauses zu betrachten. Hinzu kämen Beiträge anderer Senatsverwaltungen; zum Beispiel für Gesundheit.

Maßgeblich für die Förderung von sozialen Projekten in Berlin sei das integrierte Sozialprogramm (ISP). Hier hätten die Träger von Sozialprogrammen, wie der paritätische Wohlfahrtsverband, Sitz und Stimme. Ein Kooperationsgremium entscheidet dann, wie diese über das Integrierte Sozialprogramm zur Verfügung gestellten Mittel, über deren Höhe der rotrotgrüne Senat entschieden habe, verwendet werden.

Unsicherheit und Verwahrlosung

Bei aller Hilfsbereitschaft der Berliner für Obdachlose wachse auch das Unsicherheitsgefühl in der Stadt, erläuterte Ide. Eine Ursache sei die sichtbare Verwahrlosung in der Stadt; zum Beispiel im Tiergarten. Das habe der Bürgermeister von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel kritisiert. Im Tiergarten gab es mehrere Übernachtungscamps, die viele Probleme nach sich gezogen hätten. Einer der Bewohner hat mutmaßlich eine Berlinerin ermordet, die auf dem Weg vom Schleusenkrug zum Bahnhof Zoo war. Breitenbach stimmte der Problembeschreibung zu. Das Problem löse sich aber mit der Räumung von Camps nicht in Luft auf. Camps werden jeden Tag in der Stadt aufgelöst. Es sei ein Unterschied, ob man Politik gestalte oder ein Thema populistisch aufgreife. Puhl kritisierte, dass die Camps im Tiergarten am 29. Oktober, kurz bevor die Kältehilfe ihre Arbeit aufgenommen hat, geräumt worden sind. Menschen von A nach B zu verfrachten, sei sinnlos. Ein Obdachloser als Täter in einem Mordfall lasse keine Rückschlüsse auf alle Obdachlosen zu. Wenn ein Bankmitarbeiter einen Mord begeht, gehen die Bürger am nächsten Tag trotzdem in die Bank. In den allermeisten Fällen von Gewalt durch Obdachlose seien andere Obdachlose die Opfer. Für Obdachlose sei das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, viel höher als für Nichtobdachlose.

Ein Teilnehmer aus dem Publikum warf den Medien vor, sie würden durch ihre Berichterstattung die negative Stimmung in der Bevölkerung gegen Obdachlose fördern. Ide antwortete, dass es Aufgabe der Medien sei, über Dinge zu berichten, die nicht gut laufen.

Zuwanderung aus Osteuropa

Hat die Versorgung in Berlin eine Sogwirkung auf Obdachlose aus anderen EU-Ländern, fragte Ide. Breitenbach antwortete, dass es für Zuwanderung viele Motive gäbe. Aber Zuwanderung um in Berlin auf der Straße zu leben, erscheint ihr  fragwürdig. Ein Teil der Obdachlosen aus anderen EU-Ländern ist hier, weil diese Menschen um ihren Arbeitslohn geprellt worden sind. Ide wies darauf hin, dass es in Hamburg Obdachlose aus anderen EU-Ländern gezielt angesprochen werden, um ihnen zu helfen und sie bei Bedarf bei der Reise in ihre Heimat zu unterstützen.

Wohnungsbau in Berlin

In kaum einer politischen Diskussion in Berlin kommt das Thema Wohnungsbau nicht zur Sprache. Eine Teilnehmerin kritisierte die langen Verzögerungen bei Wohnungsbauvorhaben, obwohl Bauland vorhanden ist. Breitenbach antwortete, dass eine Ursache die Spekulation mit Bauland ist. Das sei aber ein Thema für eine eigene Veranstaltung. Ide fügte hinzu, dass Bauverzögerungen oft in der Uneinigkeit von Land und Bezirken und dem Vorgehen der Bausenatorin begründet sei.

Matthias Bannas und Alexander Schröder

Hier findet Ihr noch einen Bericht zur Veranstaltung vom Tagesspiegel.

Wer steckt dahinter?

Der Berliner Pub Talk wird von Mitgliedern des Toastmaster-Club Berliner Redekünstler organisiert.

Impressionen der Veranstaltung – alle Fotos von Andrea Tschammer